22 Gründe, warum Computer-Programme den Arzt stressen

PHILADELPHIA/HAMILTON.
Wie in jedem Jahr präsentieren Aussteller aus aller Welt in diesen Tagen in Hannover auf der CeBIT die schöne neue Welt der Informationstechnologie. Auch Ärzte gehören zur umworbenen Zielgruppe. Gerade im Bereich der Praxis- und Kliniksoftware klaffen jedoch Anspruch und Wirklichkeit oft weit auseinander, wie zwei Studien im amerikanischen Ärzteblatt dokumentieren. Sie befassen sich mit den Risiken und Nebenwirkungen, die sich im Alltag aus schlecht programmierter Software ergeben können.
An vielen Kliniken werden die Computer mit Programmen ausgerüstet, die die Ärzte bei der Verordnung von Medikamenten unterstützen sollen. Die Ansprüche sind hochgesteckt. Die Computerized Physician Order Entry (CPOE)-Systeme sollen die Fehlerrate bei der Verschreibung von Medikamenten senken. Bis zu 81 Prozent weniger Dosierungsfehler werden versprochen.Die Praxis sieht jedoch anders aus, wie eine Untersuchung des Soziologen Ross Koppel von der Universität von Pennsylvania in Philadelphia zeigt (JAMA 2005; 293: 1197-1203). Koppel besuchte mit Kollegen eine Klinik der tertiären Versorgung und führte Interviews mit Ärzten und Apothekern. Es wurden Gruppensitzungen abgehalten, und die Soziologen sprachen auch mit der Klinikleitung, die die Software angeschafft hatte. Schließlich beobachteten die Forscher einige Ärzten bei ihrer Arbeit am Computer und entwickelten einen Fragebogen, mit dem sie die Zufriedenheit der Ärzte mit den Programmen untersuchten.
Sie ermittelten 22 Gründe, warum Computer den Ärzten das Leben eher schwer machen und möglicherweise die Fehlerrate beim Rezeptieren erhöhen, statt sie zu senken. Die Schwierigkeiten ließen sich auf zwei Problembereiche zurückführen: Informationsfehler und Schwierigkeiten in der Interaktion von Arzt und Computer.
Informationsfehler entstehen beispielsweise, wenn das CPOE auf dem Bildschirm des Arztcomputers die Tablettengröße anzeigt, in der die Apotheke ein Medikament einkauft. Wenn die normale Dosierung 20 Milligramm oder 30 Milligramm beträgt, wird eine Apotheke das Medikament vielleicht in Tabletten zu zehn Milligramm bevorraten. Bei selten verwendeten Medikamenten besteht dann die Gefahr, dass der Arzt die Zehn-Milligramm-Tablette als minimale Tagesdosis betrachtet, obwohl dies 20 Milligramm sind. Bei seltener verordneten Medikamenten trat dieser Fehler bei 28,5 Prozent der Ärzte mehrmals pro Woche auf. Ebenso häufig sind zeitliche Lücken in einer Antibiotikatherapie, weil Rezepte nicht erneuert werden. Ein Aufkleber auf der Papier-Krankenakte ist oftmals zuverlässiger als eine schlecht programmierte Software, findet Koppel.
Interaktionsprobleme zwischen Computer und Arzt ergeben sich, wenn wichtige Informationen auf dem Bildschirm nicht hervorgehoben werden, oder wenn mehrere geöffnete Fenster unterschiedliche Daten anzeigen und der Arzt den Überblick verliert. Bei dem getesteten System kam es auch des Öfteren zu Abstürzen, bei denen der Arzt dann gänzlich den Zugriff auf die elektronischen Krankenakten verliert.
Letztlich ließen sich alle diese Fehler vermeiden, wenn die Programme praxisnäher gestaltet würden. Doch den Programmierern fehle häufig der genaue Einblick in die komplexe Arbeitswelt der Ärzte, befürchtet Koppel.
Die Bedenken Koppels teilt auch Brian Haynes von der McMaster Universität in Hamilton, Kanada (JAMA 2005; 293: 1223-1238), der einen Überblick über die Literatur gibt.
100 Studien haben zwischen 1973 und 2004 die Erfahrungen von 3 800 Ärzten mit so genannten Expertensystemen untersucht. Die meisten kamen zu dem Ergebnis, dass die Computerprogramme den Ärzten nutzen. Doch nur sieben Studien konnten belegen, dass die Programme die Versorgungsqualität der Patienten verbesserten. Wobei selbst dieses Ergebnis infrage gestellt werden kann. Denn keine Studie hatte harte Endpunkte wie etwa die Sterblichkeit der Patienten. In anderen waren die Auswirkungen auf Surrogatendpunkte wie Blutdruckkontrolle oder HbA1c-Wert bei Diabetikern nach Ansicht Haynes nicht überzeugend.
Quelle: Deutsches Ärzteblatt